02. Dezember 2021
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Bundesverfassungsgericht

Schulschließungen waren nach der im April 2021 bestehenden Erkenntnis- und Sachlage zulässig

Mit dem am 30. November 2021 veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das vollständige oder teilweise Verbot von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen zum Infektionsschutz („Schulschließungen“) nach der vom 22. April bis zum 30. Juni 2021 geltenden „Bundesnotbremse“ richten.

Schulschließungen waren nicht grundgesetzwidrig

Die Verfassungsbeschwerden zu den verfügten Schulschließungen hat das BVerfG mit ähnlicher Begründung im Hinblick auf das überragende Rechtsgut des Lebens- und Gesundheitsschutzes zurückgewiesen. Die beschwerdeführenden Schüler:innen rügten insbesondere die Verletzung eines Rechtes auf Bildung. Die Eltern machten unter anderem geltend, dass ihr nach Art. 6 Abs. 1 GG geschütztes Recht auf freie Gestaltung des Familienlebens durch das Verbot von Präsenzunterricht unverhältnismäßig beeinträchtigt worden sei.

BVerfG postuliert erstmals Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung

Erstmals hat das BVerfG ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf Bildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG abgeleitet. Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst, soweit es nicht um die berufsbezogene Ausbildung geht, die Schulbildung als Ganze, also sowohl die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten wie auch Allgemeinbildung und schulische Erziehung. Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung von Schule.

Schulschließungen mit erheblichen negativen Folgen

In dieses Recht auf Bildung haben die Schulschließungen nach der Bewertung des BVerfG in schwerwiegender Weise eingegriffen. Nach sachkundiger Einschätzung führte der Wegfall von Präsenzunterricht zu Lernrückständen und Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung. Mit dem Präsenzschulbetrieb sei ein für die psychosoziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen wichtiger Sozialisationsraum entfallen. Die Schülerinnen und Schüler an Grundschulen waren nach einhelliger Einschätzung der sachkundigen Dritten besonders schwerwiegend betroffen, weil der Bildungserfolg bei ihnen von der Möglichkeit direkter Interaktion mit den Lehrern abhängt und Lernrückstände in dieser frühen Bildungsphase den gesamten schulischen Werdegang beeinträchtigen können. Diese Sicht begründete der Senat nicht zuletzt mit einer ganzen Reihe von sachkundigen Stellungnahmen aus den Bereichen Pädagogik und Familienpsychologie. Insbesondere habe der Wegfall des Präsenzunterrichts Lernrückstände bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien in besonderer Weise gefördert und zu einer erheblichen Belastung der familiären Verhältnisse geführt.

Auch hier überragendes Rechtsgut der Gesundheit

Der Senat bewertete die Anordnung der Schulschließungen gemäß § 28 b Abs. 3 IfSG als Bestandteil des Gesamtschutzkonzepts innerhalb eines ganzen Maßnahmenbündels zum Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter. Auch die Schulschließungen hätten der Begrenzung zwischenmenschlicher Kontakte und damit dem Zweck des Schutzes von Leben und Gesundheit der Allgemeinheit sowie der Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gedient. Das Verbot des Präsenzunterrichtes sei gemessen an dem damaligen Sach- und Erkenntnisstand und der Tatsache, dass die Impfkampagne gerade erst begonnen hatte ein geeignetes Mittel zur Förderung dieses Gesundheitsschutzes gewesen.

Schulschließungen waren verhältnismäßig und zumutbar

Der Senat bewertete die Schulschließungen als angemessen. Zum einen habe der Gesetzgeber Schulschließungen an eine besonders hohe 7-Tage-Inzidenz von 165 geknüpft. Die Eingriffe in die Eingriffsintensität habe der Gesetzgeber dadurch gemindert, dass es den Ländern freigestanden habe, Abschlussklassen und die Förderschulen von dem Verbot des Präsenzunterrichts auszunehmen.

Den Ländern sei auch die Möglichkeit eingeräumt worden, eine Notbetreuung einzurichten, um besonders sozial schwache Schüler zu fördern. Darüber hinaus sei die Möglichkeit der Einrichtung des Distanzunterrichts, teilweise digital, teilweise durch Zurverfügungstellung von schriftlichen Aufgabenstellungen eingeräumt worden. Schließlich habe der Bund den Ländern im Rahmen des Digitalpakts Schule Finanzhilfen in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Euro gewährt, um die Rahmenbedingungen zur Durchführung des digitalen Unterrichts zu verbessern.

Für die Zumutbarkeit der Schulschließungen ist von maßgeblicher Bedeutung, dass die ersatzweise Durchführung von Distanzunterricht im Grundsatz gewährleistet war. Das BVerfG schränkte aber ein: Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit anhaltender belastender Gefahrenabwehrmaßnahmen allerdings zu berücksichtigen, ob diese möglicherweise freiheitsschonender hätten ausgestaltet werden können, wenn der Staat an einer Verbesserung der wissenschaftlichen Erkenntnislage mitgewirkt hätte. Ein bei der Beurteilung der Zumutbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht durchschlagendes Versäumnis des Staates bei der Erkenntnisgewinnung konnte jedoch zum Zeitpunkt April 2021 nicht festgestellt werden.

Start muss Negativfolgen abmildern

Der Senat betonte in diesem Zusammenhang allerdings, dass angesichts der Belastungen der Eltern schulpflichtiger Kinder und wegen deren fehlender Möglichkeit, Vorsorge für den Fall von Schulschließungen treffen zu können, das staatliche Förderungs- und Schutzgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG den Staat verpflichtet, die nachteiligen Folgen der Schulschließungen für die Familien und die Teilhabe der Eltern am Arbeitsleben durch Maßnahmen zur Familienförderung auszugleichen. Dieser Pflicht hat der Staat nach Einschätzung des Senats allerdings in hinreichendem Maße Genüge getan.

Hierzu gehört auch der nach § 56 Absatz 1a Satz 1 Nr. 1 IfSG bestehende Anspruch auf Entschädigung erwerbstätiger Eltern, die wegen Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten konnten sowie die Erweiterung des Anspruchs gesetzlich Versicherter auf Krankengeld wegen der Betreuung erkrankter Kinder gemäß § 45 Absatz 2a Satz drei SGB V.

Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen

Im Ergebnis waren die verfügten Schulschließungen nach der Entscheidung des BVerfG daher verfassungsgemäß und die hiergegen eingelegten Verfassungsbeschwerden nicht erfolgreich.

 

Quelle:

BVerfG, Pressemitteilung Nr. 100/2021 vom 30. November 2021

BVerfG, Beschluss v. 19.11.2021, 1 BvR 971/21; 1 BvR 1069/21

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